K. D. BARNES

 

Lieben und ehren

 

»Zum Zeichen und Pfand immer währender Liebe und Treue traue ich euch mit diesem Ring.« Die Worte der kirchlichen Trauung gingen Karis eben durch den Sinn, als sie auf dem Kammweg zu ihrem Dorf zurückritt. Sie kam von der Taufe ihrer Nichte in Riversbend. Hallee, ihre jüngere Schwester, hatte die Kleine ihr zu Ehren Karista genannt. Und sie nach der Taufe inständig gebeten, doch die Nacht bei ihnen zu bleiben.

»Die Wege sind unsicher!«, hatte Hallee gerufen. »Ach, es gab da letzthin merkwürdige Vorkommnisse. Die Hirten fanden tote Schafe, denen alles Blut ausgesaugt war. Vor vierzehn Tagen wurde in Shadygrove ein Mann, der des Nachts auf dem Heimweg vom Wirtshaus war, überfallen. Es ist einfach gefährlich, so spät noch unterwegs zu sein!«

»Es ist doch nur ein Halbtagesritt durchs Vorgebirge«, hatte sie erwidert und gelacht: »Ja, am Abend bin ich schon daheim und sitze vor dem Kamin in meinem Schaukelstuhl und denke an euch!«

»Ich weiß, dass du so rasch wie möglich wieder bei Mikel sein willst«, hatte die Schwester gemeint. »Aber überlege es dir noch einmal! Es ist nach Einbruch der Nacht draußen wirklich unsicher!«

Und jetzt war sie auf dem Weg nach Hause. Oh, wieder daheim zu sein!, dachte Karis. Mikel zu sehen! Es war das erste Mal seit ihrer Hochzeit vor gut einem Monat, dass sie getrennt waren.

Sie drehte den Ehering an ihrer linken Hand: An den schmalen Silberring hatte sie sich ja noch immer nicht gewöhnt. Mikel hatte ihn selbst gefertigt, aus einem Erzbrocken, den er als Junge im Vorgebirge gefunden hatte. In abendelanger Mühe hatte er in Meister Tobards Schmiede den doch unansehnlichen Erzklumpen zu feinen Drahtringen verarbeitet und die dann so geschickt gebogen, ineinander gefügt, dass sie einen überaus komplizierten Reif ergaben. Sie war ganz hingerissen gewesen von diesem Geschenk, vor allem, nachdem er ihr das Geheimnis seiner Komposition enthüllt hatte. Und nun, nun trug sie den Puzzlereif an ihrer linken Hand, als Symbol ihrer Zusammengehörigkeit.

Von ein paar Bäumen vor ihr flog, wohl von etwas erschreckt, eine Schar Vögel auf. Da zügelte sie ihr Pferd, um sich doch etwas genauer umzusehen, klopfte aber ihrer Stute beruhigend und aufmunternd den Hals.

»Zum Abendessen sind wir daheim«, versprach sie dem wackeren Bergpony, das auf den Namen Nebel hörte. Und bald überzeugt, dass ihr hier keine Gefahr drohe, trieb sie ihre kleine Nebel wieder an und nahm ihre Tagträume von Hochzeit und Eheglück wieder auf.

Angesichts des Frühlingsgrüns im Wald dachte sie an ihr Hochzeitskleid. Eigentlich war es ja ein Festkleid, aber gab es denn ein schöneres Fest als eine Hochzeit? Hallee hatte Saum und Ärmel des weiten, fließenden Gewandes mit Mädesüß und Myrten reich bestickt. Sie hatte ihr kastanienbraunes Haar offen getragen, wie es einer jungen Frau geziemt, obwohl sie doch, um die Wahrheit zu sagen, hier sicher die älteste Braut seit Menschengedenken gewesen war – Hallee, zum Beispiel, ihre um sieben Jahre jüngere Schwester, war seit Jahren verheiratet, hatte schon zwei Kinder und ging mit dem dritten schwanger.

Aber … was war es für eine schöne Zeremonie gewesen! Vater MacKellar, ihr Dorfpfarrer, der sie und Mikel getauft hatte, hatte die Trauung vollzogen. Und Frau Eldritch, die Heilerin und Hebamme des Dorfes, bei der sie in die Lehre ging, hatte sie stolz zum Altar geführt, stellvertretend für ihre Eltern selig …

In der Mittagshitze dösend und von Nebels Gang in Halbschlaf gewiegt, durchlebte Karis so ihre Hochzeit wieder, auch den Augenblick, da Mikel Vater MacKellar ihren silbernen Ehering zum Segnen reichte.

»Ich, Karis, nehme dich, Mikel, als meinen rechtmäßigen Mann – und will dich lieben und ehren und dir gehorchen, in Freud und Leid, in Gesundheit oder Krankheit, Reichtum oder Armut, bis dass der Tod uns scheidet …« Karis seufzte erneut vor Glück und Zufriedenheit, als sie nun, zum zweiten Mal an diesem Tag, ihr Ehegelübde wiederholte. Und so versunken war sie in ihren Erinnerungen, dass sie glatt vom Pferd fiel, als das jäh vor einer Klapperschlange scheute, die dort auf dem Kammweg lag.

Schon rutschte, stürzte sie die Böschung von losem Schiefer hinab – und hoffte dabei nur, dass ihr Pferd, das genauso abging, nicht auf sie fiele und sie zermalmte.

Endlich kamen sie auf einem schmalen Absatz, wohl fünf Meter unterhalb des Weges, zum Stehen – zu ihrem Glück, fiel doch der Hang dann schroff ab, um sich erst weit drunten zu einer Klamm abzuschrägen … Kalis hatte nur ein paar Schrammen und blaue Flecken abgekriegt, aber mit Nebel sah es nicht so gut aus. Die zierliche Stute zitterte schrecklich und konnte auf dem linken Hinterfuß nicht auftreten. So rappelte Karis sich vorsichtig hoch und humpelte zu dem armen Pferd hinüber. Und so sehr sie vom Schock ihres Sturzes bebte, bald gewann doch ihre Heilerinnenroutine die Oberhand. Ja, sie hörte förmlich Frau Eldritchs Mahnung wieder: »Erst werde du selbst ruhig, dann sieh nach dem Patienten!«

»Hör, hör, Nebel«, sagte sie besänftigend, »lass mich nur mal einen Blick darauf werfen!«

Aber als sie dann den linken Hinterfuß gehoben hatte und den im Huf verkeilten Stein sah, seufzte sie recht entsetzt! Sie versuchte ihn mit den Fingern zu lockern, doch vergeblich – er saß viel zu fest … Sie brauchte etwas, das als Hufräumer taugte – stabil genug, um den Stein zu lösen, ohne in diesem Bereich weiter Schaden anzurichten. Für einen Moment dachte sie, ihren Dolch zu nehmen, verwarf diese Idee aber dann als allzu riskant. Wenn ihr der ausrutschte, verletzte sie sich selbst oder das Pferd.

Nun, sie mussten es vor Einbruch der Nacht bis zum Unterstand schaffen, dieser Hütte für Reisende, die – wenn sie sich recht erinnerte – ungefähr eine halbe Meile hinter ihnen lag. Wenn sie den Stein herausbrächte, kämen sie ja vielleicht vor der Dunkelheit dahin. Den musste sie leider erst entfernen, denn der Abhang war so steil, dass Nebel ihn nur auf allen vieren hinaufkäme.

»Eins … zwei … drei«, murmelte sie und atmete ruhig aus, um ihre flatternden Nerven zu besänftigen. Und wie sie ihre missliche Lage bedachte, kam ihr eine Idee: »Vielleicht kann ich diesen Stein ja mit dem geschnitzten Hornlöffel aus meinem Medizinbeutel lösen!«

Also durchsuchte sie schnell ihre Satteltaschen, bis sie ihr Heilerinnenset fühlte, zog es heraus und kramte darin, bis sie den Löffel und dazu ein Bündel getrockneter Kräuter voll goldgelber Blüten in der Hand hielt.

»Mädesüß nimmt den Schmerz«, murmelte sie, die uralten Worte wiederholend, die Frau Eldritch so oft gebrauchte, und hielt Nebel das duftende Bündelchen hin. Und das Pferd schnupperte skeptisch daran, und begann schließlich, zu ihrer großen Erleichterung, zu fressen.

»Gutes Mädchen!«, lobte Karis. »Das müsste deine Schmerzen ein wenig lindern.«

Das Gesicht zu seinem Schwanz gekehrt, trat sie an das linke Hinterbein, hob den verletzten Fuß, klemmte ihn zwischen die Knie, um ihn zu halten, versuchte dann, den Löffel seitlich zwischen Huf und Stein einzuführen … Der Stein rührte sich nicht. Das Tier war, zum Glück, an derlei Hufpflege gewöhnt und versuchte also nicht, wie manche Pferde es getan hätten, auszuschlagen oder sein ganzes Gewicht auf sie zu legen. Nun versuchte sie, den Schöpfteil von hinten in den Huf zu schieben, was allmählich auch gelang. Sie musste den Löffel nur weit genug hineinbekommen, um dann, wie mit einem Hebel, an dem Stein ansetzen zu können.

Geschafft – endlich! Der Stein sprang ihr glatt in die Hand: Unten rund und oben spitz, hatte er genau in den Huf gepasst. Ganz behutsam untersuchte sie den Fuß auf Verletzungen. Doch Nebel zuckte zusammen, riss ihn ihr aus den Händen. Aber ihr war nicht entgangen, dass die Wunde zu bluten begonnen hatte. Auch wenn die größte Gefahr von einer Infektion drohte – die Blutung hier musste gestillt werden, sonst könnten sie nicht weiter.

Das Wichtigste war, vor Einbruch der Nacht ein Dach über dem Kopf zu haben. Also zog sie ihre Trinkflasche heraus, spülte mit etwas Wasser das Blut von der Wunde, packte saugfähiges Moos darauf und umwickelte den Huf mehrmals mit Rupfen. Dann verschnürte sie das Ganze mit ihrem ledernen Halsband – das Kreuz daran hatte sie natürlich zuvor abgenommen und in die Rocktasche gesteckt. Das ist nicht der schönste Verband, den ich je gemacht habe, dachte sie, aber er sollte wohl gehen. Und jetzt, nichts wie zu der Hütte!

Nun führte sie Nebel vorsichtig den steilen Hang hinauf. Die Schlange war, wie vermutet, längst verschwunden, als sie auf den Weg zurückkamen – nicht die kleinste Spur war mehr von ihr zu entdecken. Langsam zog sie also los, den Weg zurück, den sie gekommen waren, immer in der Hoffnung, diese Schutzhütte für Reisende zu erreichen, bevor es dunkel würde. Denn die Sonne stand schon tief über dem Horizont, und die Luft hatte etwas entschieden Kühles.

Wie sie so dahintrotteten, eilten Karis die Gedanken voraus – zu allem, was sie noch besorgen musste. Ich brauche Waldwurz gegen das Fieber, dachte sie, und Wasser und Feuerholz …

Auf dem Herweg war sie, unweit der Hütte, an einem schmalen Bach vorbeigekommen: Da könnte sie Wasser holen. Anmach- und Brennholz wären wohl vorhanden, da üblicherweise, wie es der schlichte Anstand gebot, die Benutzer solcher Hütten vor dem Weiterziehen derlei Vorräte wieder auffüllten. So blieb noch Waldwurz zu besorgen. Da fiel ihr der alte Ahornbestand ein, den sie unterwegs gesehen hatte. Waldwurz fand man gemeinhin im tiefen Schatten der älteren Bäume – aber war das Wäldchen vor oder nach der Hütte gewesen?

Hinter der nächsten Wegbiegung kam es schon in Sicht. Kurz davor führte sie ihr Pferd auf eine bemooste Lichtung, in der ein Bächlein munter sprang und das grüne Gras in Hülle und Fülle wuchs, band es am langen Zügel an einen tief herabhängenden Ast, damit es zwar genug Bewegungsfreiheit hätte, aber keine Möglichkeit sich zu entfernen. Dann machte sie sich flugs zu den mächtigeren Bäumen in der Waldmitte auf. Da pflückte sie ein paar Sträuße Waldwurz für den heißen Fiebertee, riss sich auch eine Pflanze samt Wurzel aus, da sich ja die potenteren Wirkstoffkonzentrationen in den Wurzelknötchen befinden. Auf dem Rückweg zu ihrem Pferd nahm sie sich für ihr Abendessen noch von dem Bohnenkraut und den wilden Zwiebeln mit, die da an einer Stelle wuchsen.

Als Karis alles in der Satteltasche verstaut hatte, band sie ihre Patientin los und führte sie weiter den Kammweg hinab, beobachtete sie dabei in aller Ruhe: Sie hinkte noch heftig; aber wenn man den Fuß vor der Nacht richtig behandeln könnte, würde sie wohl keinen dauernden Schaden davontragen.

Es wurde schon dunkel, als sie endlich die Hütte erreichte – die Feldflasche hatte sie am Bach gefüllt, damit sie bis zum Morgen nicht mehr zum Wasserholen müsste. Und nun brachte sie Nebel in die roh gezimmerte Unterkunft, nahm ihr Sattel und Taschen ab, legte das auf einer der beiden Bänke in dem Raum ab und sah sich um: Diese Hütte war ein typisches Obdach für Reisende, mit vier Wänden und einer Tür, der grob gemauerten Feuerstelle an der hinteren Wand und dem nackten Lehmboden. Zufrieden ging Karis hinaus, um ein paar Arme voll von dem Gras zu holen, das auf der Lichtung ringsum wuchs.

Was sie übrig lässt, dient mir als Bett, sagte sie sich dazu, füllte dann den Reisewasserkessel, machte ein Feuer und hing das rußgeschwärzte Ding über die nun bald lustig flackernden Flammen. Als sie aber, gegen die namenlosen Nachtwesen, die Tür verriegelte, fiel ihr Hallees Warnung wieder ein …

Geschickt nahm sie nun den Verband aus Riemen und Rupfen ab, entfernte sorgsam das vor Blut ganz dunkle Moos. Als sie die Wunde gewaschen hatte, stellte sie zufrieden fest, dass die Blutung zum Stillstand gekommen war. Nun holte sie ein paar Beutel aus ihrem Medizinpacken, nahm sich einen aus mahagonigefärbtem Leder und schüttete das weiße Pulver, das darin war, in eine flache Schüssel, fügte etwas Wasser dazu, auch geriebene Steinkrautwurz und eine Prise Poleiminz, und rührte es alles, unter gelegentlicher Zugabe von Wasser, mit ihrem Hornlöffel gut um, bis es so etwa die Konsistenz einer mittleren Haferschleimsuppe hatte.

Nun die Waldwurz!, dachte sie, öffnete rasch die Satteltasche und holte die frischen Pflanzen heraus. Mit den Blüten brühe ich einen heißen Tee auf, aber für die Wunde brauche ich die Wurzelknötchen, Wurzelextrakt ist einfach stärker. Sie ging die Prozedur noch einmal gedanklich durch und begann sodann, die Wurzeln vorsichtig zu waschen, wobei sie, um nichts von der kostbaren Medizin zu verlieren, sehr darauf achtete, die Knötchen nicht zu verletzen … Der fertige Waldwurztee würde Tage halten, aber diese Wurzelsalbe müsste sogleich angewandt werden, um voll wirksam zu sein. Also legte sie die Knötchen auf die Bank und kniete sich, den Dolch in der Hand, auf die blanke Erde und setzte, zum ersten Schnitt, die Klinge längs des größten Exemplars an, lauschte dabei aber noch auf den Wind, der um ihre Hütte fegte, dass die überhängenden Äste an den Bohlen scheuerten und es fast klang, als ob jemand an der Tür kratzte.

Ruhig dann schnitt sie diagonal in die Knolle und hielt sie, zum Tropfen, über die Schüssel mit den anderen Ingredienzien. Als sie zur vierten Knolle kam, wurde sie von unverkennbarem Donnergrollen unterbrochen. Und in der dann folgenden Stille hörte sie es wieder kurz an der Tür kratzen. Da ließ sie für einen Moment die Arbeit ruhen und lauschte, horchte, ob sich das Geräusch wiederholte. Nein, nichts. Also machte sie sich, kopfschüttelnd, wieder an ihre Prozedur zur Extraktion dieses kostbaren Safts.

Kratz, kratz, kratz, das Geräusch kam wieder, und drängender jetzt. Karis zögerte, unwillig, ihre Arbeit zu unterbrechen. Aber das Kratzen hörte nicht auf! So stellte sie sich hinter die dicke Tür und rief: »Wer ist da?« Die Ohren gespitzt, um die undeutliche Antwort zu verstehen, hob sie vorsichtig den Riegel und öffnete die Tür einen Spalt, um hinauszuspähen – sah erst nur die schmale Bahn des Feuerscheins und zuckende Schatten. Als sich ihre Augen ans Dunkel gewöhnt hatten, sah sie, weitab von der Tür, eine verhüllte Gestalt stehen, ein Mann wohl, und der fragte, mit seltsam akzentuierter Stimme: »Darf ich eintreten?«

Sie zögerte, aber er schien allein und unbewaffnet zu sein. So bejahte sie denn, und er folgte ihr in die Hütte und sah nur zu, wie sie die Tür wieder verriegelte.

»Ich heiße Rushak«, sagte er, als er die Kapuze zurückwarf, und legte den Umhang ab. Karis hatte das unbestimmte Gefühl, den Mann zu kennen – wusste aber, dass das nicht sein konnte. Nur wenige Fremde kamen ins Weideland. Doch, er hatte irgendetwas an sich …

Dann sah sie, dass sein Blick auf den Kräutern ruhte, die auf der Bank ausgelegt waren.

»Bist du Heilerin?«, fragte er mit sanfter Stimme.

»Lehrling«, erwiderte sie, jäh an ihre Arbeit erinnert, »und ich muss mich wieder an die Arbeit machen, bevor die Waldwurz ihre Wirkkraft verliert.«

»Aber gewiss …«, gab er zur Antwort und nahm auf der anderen Bank Platz.

Sie entleerte noch vier Knötchen in ihre Schüssel und rührte dann wieder sacht um, um alles gründlich zu vermischen.

Als diese Zugsalbe zu ihrer Zufriedenheit bereitet war, trug sie sie, löffelweise, direkt auf die Wunde auf, verband den Huf mit reinen Gazebinden, sicherte wieder alles mit Rupfen und Riemen und prüfte dann mit zwischen Riemen und Pferdefuß gestecktem Finger, ob es nicht zu fest oder zu straff saß. »Schön«, brummte sie dann, »das müsste helfen!«

Beim Aufräumen konnte sie nicht umhin, sich über den Fremden Gedanken zu machen. Er schien jung zu sein, nicht älter als etwa zwanzig, und war von zierlicher Gestalt, strahlte aber Ruhe und Selbstvertrauen aus …

Als sie das Bohnenkraut und die Zwiebeln für die Suppe klein schnitt, sah sie zu ihm hinüber. Er saß auf der Bank, etwas weit vom Feuer – und er hatte keinen Schatten. Sie wäre fast aufgesprungen, zwang sich aber, noch einmal hinzusehen. Er hatte wirklich keinen Schatten! Und wie ihr noch der Gedanke an das reißende Wesen kam, das letzthin hier gewütet hatte, stand er schon auf und kam näher.

Langsam kam er auf sie zu – und langsam wich sie zurück. Sie gab sich nicht der Illusion hin, ihn vielleicht überwältigen zu können. Mit der rechten Hand umklammerte sie den Dolch an ihrem Gurt, der gut in den Falten ihres Rocks verborgen war. Mit der Linken aber tastete sie in der Rocktasche fieberhaft nach dem Kruzifix ihrer Mutter. Es war weg! Dafür klaffte da ein Loch in der Tasche.

 Ach, da musste es durchgefallen sein! Inzwischen konnte es überall sein.

Sie musterte Rushak scharf. So aus der Nähe wirkte er älter als zuvor, eher Ende zwanzig. Jetzt fing er ihren Blick ein, fixierte ihn stumm, gebieterisch, und kam, während sie, wie hypnotisiert, in diese tiefen, blauen Augen starrte, langsam und ohne Hast ständig näher. Nervös versuchte sie, den Bann zu brechen … und es gelang ihr schließlich auch, indem sie die Augen schloss. Aber nun blieb er vor ihr stehen und fasste sie unters Kinn.

»Sieh mich an!«, befahl er, und sie spürte, wie ihr die Augen von allein aufgingen. Er stand dicht vor ihr. Sein dunkles, schulterlanges Haar, an den Schläfen leicht gelockt, war zum Pferdeschwanz gebunden, und über den durchdringenden blauen Augen wölbten sich dicke, dunkle Brauen. Ihr war, als ob sie am Rand eines tiefen stillen Teichs stand und wusste, dass es sie von einem Moment auf den anderen in seine eisigen Tiefen ziehen könnte … Zitternd ließ sie es geschehen, dass er ihr mit den Fingerspitzen vom Kinn den Kiefer hinauf bis unters Ohr fuhr, ihr ganz ruhig das dicke kastanienbraune Haar aus dem Gesicht strich. Da erschlaffte ihre Hand, der Dolch fiel zu Boden. Und der Atem ging ihr schwer und rau, da sie sich mühte, sich aus seinem Bann zu lösen.

Das jähe Wiehern ihrer Stute rief ihr in Erinnerung, was ihr im Leben lieb und teuer war. Erst dachte sie daran, wie sie Mikel kennen gelernt hatte und wie stark seine Hände gewesen waren, als er sie von dem Wagen gehoben hatte, wie gut er zu Nebel war und sie mit Hand und Stimme beruhigte. Andere Erinnerungen, andere Bilder, stiegen auf … Mikel, der, groß und dunkel gegen den roten Schein der Esse, ein Hufeisen im Wasserbottich abschreckte; und Mikel, der bei der Sonntagsmesse, den Kopf zum Gebet gebeugt … Wie sie dabei in Gedanken den silbernen Fingerring drehte, ging es ihr auf! Das Kruzifix ihrer Mutter war nicht das einzige geweihte Objekt, das sie besaß. Ihr Trauring war ja erst einen Monat zuvor von Vater MacKellar gesegnet worden. Sie sah es noch vor sich, wie er ihn, vor dem Gebet um Gottes Segen für ihren Bund, von Mikel entgegengenommen und in die Heilige Schrift gelegt hatte .

Die Linke hob sie jetzt gegen Rushak, brach den Augenkontakt und rief: »Lass mich!« Und da sah er den Ring und erbleichte. Sie hob den Ring auf Augenhöhe. Rushak wich zurück. Und sie folgte ihm Schritt für Schritt … den ganzen Weg durch den großen Raum zurück. An der Tür verhielt sie, hob den Riegel, öffnete – Rushak entfloh in die Dunkelheit. Nun sperrte sie, am ganzen Leib zitternd, die Tür wieder zu, sank erleichtert auf die Knie. Am nächsten Morgen sah sie beim Auskehren etwas auf der Erde glitzern – Metallisches. Als sie einhielt, um es aufzulesen, erkannte sie, was es war: das Kruzifix ihrer Mutter! Diesmal packte sie es zur Sicherheit in den Medizinsack. Dann drehte sie, auf dass es ihr Glück brächte, noch einmal den Trauring an ihrem Finger und machte sich mit Nebel auf den Heimweg.

Silberschwester - 14
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